Wenn erzkonservative christliche Abtreibungsgegnerinnen* juristisch argumentieren, machen sie es sich einfach. Sie verweisen auf das Bundesverfassungsgericht. Mit ihrer Entscheidung von 1975 hatten die Verfassungsrichterinnen die frisch eingeführte Fristenlösung für nichtig erklärt. Begründung: Das ungeborene Leben muss rechtlich geschützt werden. Was die Juristinnen tunlichst verschweigen: Das Bundesverfassungsgerichtsurteil schreibt gar nicht zwingend vor, dass der Lebensschutz per Strafvorschrift erreicht werden müsse. Zumindest waren sich die Bundesverfassungsrichterinnen seinerzeit über diesen Punkt höchst uneinig.
Der Status quo im Jahr 2018: Extreme Abtreibungsgegnerinnen würden gerne die aktuell gültige Beratungsregelung kippen und das Abtreibungsrecht ganz einschränken. Auf der anderen Seite machen sich immer mehr Frauen, versammelt unter dem Stichwort „Pro Choice“, dafür stark, dass die Paragrafen 218 ff Strafgesetzbuch inklusive dem § 219a StGB abgeschafft werden.
Aktueller Fall, der tatsächlich vor dem Bundesverfassungsgericht landen könnte, betrifft das Werbeverbot in § 219a StGB. Ein Blick auf das Minderheitsvotum der Entscheidung von 1975 lohnt sich. Es liefert nämlich gute Argumente, warum ein neues Gesetz die Strafvorschriften gemäß den §§ 218 ff. aufheben könnte. Und warum auch das Bundesverfassungsgericht eine Abschaffung der §§ 218 ff. gutheißen könnte.
Welche Passagen aus dem Urteil zitieren die Abtreibungsgegner?
In der Bundestagsdebatte zu § 219a StGB zitierte der CDU-Abgeordnete Rechtsanwalt Stephan Harbath folgende Passagen aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1975:
„Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen …
… Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter …“
„… Der Schwangerschaftsabbruch muß für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen und demgemäß rechtlich verboten sein …
Das Untermaßverbot läßt es nicht zu, auf den Einsatz auch des Strafrechts und die davon ausgehende Schutzwirkung für das menschliche Leben frei zu verzichten.“
Auf der Grundlage dieses Urteils führte der Gesetzgeber damals die bis heute gültige Beratungsregelung ein. Danach ist eine Abtreibung für die Ärztin zwar strafbar, bleibt aber gemäß § 218 a StGB straflos, wenn sich die abtreibende Frau drei Tage vorher hat beraten lassen.
Schon 1975 argumentierten Verfassungsrichterinnen, dass echter Lebensschutz auch ohne Strafrecht auskommt
Was viele nicht wissen – und erzkonservative Abtreibungsgegnerinnen natürlich auch nicht erwähnen: Das Bundesverfassungsgericht hat zwar 1975 geurteilt, dass das Leben Ungeborener vom Staat geschützt werden müsse. Beziehungsweise dass sein Lebensrecht Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter hätte. Aber der Gesetzgeber dürfe grundsätzlich selber entscheiden, wie er den Schutz ausgestaltet.
Zitat aus dem Urteil, Aktenzeichen: BVerfGE 39, 1
Wie der Staat seine Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des sich entwickelnden Lebens erfüllt, ist in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden. Er befindet darüber, welche Schutzmaßnahmen er für zweckdienlich und geboten hält, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten.
1. Dabei gilt auch und erst recht für den Schutz des ungeborenen Lebens der Leitgedanke des Vorranges der Prävention vor der Repression (vgl. BVerfGE 30, 336 [350]). Es ist daher Aufgabe des Staates, in erster Linie sozialpolitische und fürsorgerische Mittel zur Sicherung des werdenden Lebens einzusetzen. Was hier geschehen kann und wie die Hilfsmaßnahmen im einzelnen auszugestalten sind, bleibt weithin dem Gesetzgeber überlassen und entzieht sich im allgemeinen verfassungsgerichtlicher Beurteilung.
1975 kam die Mehrheit der Bundesverfassungsrichterinnen zu dem Schluss, dass die Strafdrohung bleiben müsse. Wer sich die Mühe macht, das Urteil zu lesen, merkt jedoch, wie schwer sich die Bundesverfassungsrichterinnen taten.
Minderheitenvotum: „zweifelhafte Eignung der Strafsanktionen für den Lebensschutz“
Zudem waren sich die Richterinnen keineswegs einig. Weder im Ergebnis noch in der Begründung. Die zwei überstimmten Verfassungsrichterinnen, Richterin Wiltraud Rupp von Brünneck und Richter Dr. Simon, schrieben in ihrem Minderheitsvotum die bemerkenswerten Sätze:
„Die Eignung von Strafsanktionen für den beabsichtigten Lebensschutz erscheint jedoch von vornherein als zweifelhaft.“
Und weiter: „Die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch wird „in Tiefen der Persönlichkeit getroffen, in die der Appell des Strafgesetzes nicht eindringt“
Mit dieser Aussage sagten sie nichts anderes als: Selbst wenn der Staat eine Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen Leben hat, muss er diesen Schutz nicht mit einem Strafgesetz versuchen zu erreichen. Strafgesetze sind nicht wirklich gut geeignet.
Hochkarätige Rechtswissenschaftlerinnen schlossen sich ihnen an. Der renommierte Strafrechtsprofessor Claus Roxin vertrat die Ansicht, ein wirkungsvoller Schutz könne auch durch sozialpolitische Maßnahmen gewährleistet werden. Daher dürfe sich der Gesetzgeber sowohl für eine Beratungs- und Fristenlösung wie auch für einen Indikationenlösung entscheiden.
Im Jahr 2018 wäre es Zeit, die letzten Nazivorschriften zu beseitigen und die reproduktiven Rechte von Mann und Frau zu stärken. Das Bundesverfassungsgericht könnte dabei helfen.
Auf der Basis dieses Minderheitsvotums und der gesamten Urteilsbegründung könnte ein neues Urteil zu den §§ 218 ff. StGB fallen. Genau genommen ist die Zeit reif dafür. Und möglicherweise führt die Klage der Frauenärztin Kristina Hänel durch die Instanzen ja auch ein solches Urteil herbei. Wenn schon 1975 umstritten war, ob es nötig und sinnvoll ist, Abtreibung unter Strafe zu stellen, könnte dies heutzutage vom Bundesverfassungsgericht endgültig verneint werden. Frauen, die schwanger sind, brauchen kein Strafrecht, um sie daran zu erinnern.
Aber es braucht gute Verfassungsrichter und Verfassungsrichterinnen, die eine solche Entscheidung treffen.
Warum Dr. Stephan Harbath dafür nicht der richtige Mann sein könnte, lesen Sie hier.
* Ich schrieb im letzten Blogbeitrag, dass ich hier künftig nur noch die weibliche Form verwenden würde, Männer aber bis auf Weiteres selbstverständlich mitgemeint seien.