Liebe Süddeutsche Zeitung! Bitte hör auf und fang an!
Ich habe dich seit vielen Jahren abonniert, du bist einer der Orte, wo ich zuhause bin, wenn man das zu einer geistigen Heimat so sagen darf. Also hör bitte auf, Rechtspopulisten Raum zu geben und fang an, aktiv die Demokratie zu fördern!
Rechtspopulisten Raum geben, heißt, Rechtsextremisten den Weg ebnen, heißt, Nazis fördern. Nazis hatten wir schon mal in Deutschland. Sie haben 6 Millionen Juden ermordet, den 2. Weltkrieg ausgelöst und millionenfach Leid und Tod verursacht, und bei den Überlebenden eine massive Traumatisierung ausgelöst, deren eklige Finger selbst noch die Kriegsenkel erreichen. Weshalb viele von ihnen, obwohl in Frieden und Wohlstand aufgewachsen, an Ängsten und Depressionen leiden, was immer mal wieder zu Suiziden führt, sozusagen als späte Kollateralschäden der Nazidiktatur. Zwei solcher Fälle habe ich meinem engsten Umfeld erlebt. Du verstehst, dass ich das NIE. WIEDER. MÖCHTE. Und deshalb hör bitte auf, Nazis den roten Teppich auszurollen.
„Aber entschuldigen Sie, Frau Engelken, hier breitet doch niemand den Nazis den roten Teppich aus!“
„Du tust es, liebe Süddeutsche Zeitung, indem du ihren geistigen Vätern (und Müttern) Platz einräumst.“
Zum Beispiel am vergangenen Donnerstag, den 30. August 2018. Ich musste wirklich schlucken, als ich den Aufmacherartikel deines Feuilletons entdeckte: Oben drüber prangte ein riesiges Foto eines schlechtgelaunten alten weißen Mannes, dessen Namen ich aus Framing-Gründen hier nicht nennen mag. Nur zur Einordnung: Er war mal Bundesbanker, und seine Gedanken haben die Hirne sämtlicher AfD-Sympathisanten gründlich eingeweicht.
Du weißt, was Framing bedeutet. Nämlich, dass die Nennung eines Gedankens seiner Verbreitung dient. Und du weißt, dass eine seitenbreite Foto-Artikel-Kombi einer Werbeanzeige im Wert von hunderttausend Euro für den abgebildeten Mann und sein Gedankengut gleichkommt.
Natürlich beleuchtet Sonja Zekri, die im Übrigen von mir sehr geschätzte Rezensentin, das neue Buch des alten Mannes kritisch. „Deutschland braucht dieses Buch so nötig wie einen Ebolaausbruch.“ Und ja, sie äußert die Hoffnung, dass die LeserInnenschaft angesichts der Plattheit der Gedankengänge erkennen möge, wie überzogen manche Ängste letztlich sind.
Das Ärgerliche ist nur: Ihre kritische Haltung ändert nichts am durch den Artikel verstärkten Framing, dass Deutschland Angst haben müsse. Das rechtfertigt Rassismus und bereitet den Weg für Hetzjagden auf Menschen. Das hatten wir zwischen 1933 und 1945 schon mal.
Gedanken zu verbreiten, heißt Taten denkbar zu machen
„Aber liebe Frau Engelken, nun kommen Sie mal runter von ihrem Horrortrip. Wir machen hier unsere journalistische Arbeit und dazu gehört es, ein literarisches Ereignis wie die Buchveröffentlichung eines kontroversen Bestsellerautors breit zu würdigen.“
Ach, es geht um das Ereignis? Wie weit würdest du dafür noch gehen, liebe Süddeutsche Zeitung? Was würdest du tun, wenn nächstes Jahr ein Hitler-Junior-Autor anträte und ein Buch namens „Mein Kampf 2.0.“ herausbrächte, in dem er die Ermordung der islamischen Rasse als Ultima Ratio darstellte und den Deutschen anheimstellte, zuerst ihre Frauen zum Gebären heim an den Herd zu schicken – ohne Verhütungsmittel, versteht sich – und dann in den 3. Weltkrieg zur Verteidigung der bedrohten deutschen Rasse zu ziehen?
Würdest du auch diesem Autor den Teppich ausrollen und ihm seitenweise Platz in deinem Feuilleton geben? Natürlich nur so lange, wie er und seine Followers es noch nicht geschafft hätten, dich als Teil der von ihm als solche bezeichneten Lügenpresse mit Arbeitsverboten lahmzulegen.
Nein, nein und nochmals nein. Zu deiner Arbeit, liebe Süddeutsche Zeitung, gehört, als die Vierte Gewalt für die Demokratie zu sorgen.
Mach dein Brainwork: Du kannst Themen ins Licht zerren und andere ausblenden.
Wie schon Hildegarf Knef mit Bertolt Brecht sang: „Und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“. Indem du deine medialen Scheinwerfer auf einen rechtspopulistischen Vordenker richtest, förderst du sein Gedankengut, machst du die Arbeit der AfD und ihrer Hintermänner. Das ist die Wirkweise von Framing. Nachzulesen bei Elisabeth Wehling „Politisches Framing“.
Nazivordenker sind nicht per se Ereignisse. Medien machen sie dazu. Oder auch nicht.
Herr T.S. und sein neues Buch sind nämlich nicht per se Ereignisse. Erst du und die anderen Medien, die willfährig Journalisten und Journalistinnen zur Pressekonferenz schicken und ihm anschließend seitenweise Feuilletonartikel oder Fernsehberichte widmen, machen ihn zum Ereignis. Du und die anderen, ihr helft mit, dass sich Gedanken und Ängste verbreiten, mit denen AfD & Co auf Wählerfang und 2018 in Chemnitz auf Hetzjagd gehen. Und JournalistInnen drangsalieren. Das begründen sie unter anderem mit Ideen aus dem Buch, für das du am Donnerstag, den 30. August 2018, mit deinem Fotoartikel eine ganzzeitige kostenlose Werbeanzeige veröffentlicht hast.
Rückblickend kann man sogar sagen: Hättest du und jede andere Zeitung mit Verstand den Autor T.S. und sein früheres Buch schon damals ignoriert, hätten seine Ideen nicht solche Verbreitung finden und zum Vorbild für Taten werden können.
Deshalb fordere ich dich auf: Hör sofort auf, solchen Ideen Raum zu geben. Und fang an, aktiv die Demokratie zu fördern! Dazu reicht es heute nicht mehr, Rechtspopulisten und Rechtsextremisten zu ignorieren. Heute muss man etwas anderes an ihre Stelle setzen. Man muss ein negatives Framing durch ein positives Framing ersetzen. Und das muss bald geschehen, die Zeit läuft davon. In Chemnitz haben Neonazis Menschen durch die Stadt gejagt. Längst glauben viel zu viele Menschen, dass Gewalt und Rassismus Probleme lösen und dass man die Demokratie am besten abschaffen sollte.
Positives Framing ist gefragt. Menschenfreundlichkeit ist ein Gewinn. Für Alle.
Gestern haben 65.000 Menschen in Chemnitz ein Konzert der Toten Hosen und Co besucht, um zu zeigen, #Wirsindmehr. Wir, die wir Demokratie und Menschenfreundlichkeit für sinnvoll halten und die wir Fluchtursachen und nicht Menschen bekämpfen wollen. Und deine Aufgabe als Vierte Gewalt, liebe Süddeutsche Zeitung, ist es, sie zu unterstützen!
„Was meinen Sie damit, Frau Engelken? Werden Sie mal konkret! Sie tun ja so, also ob wir demokratiefeindlich wären!“
Ich halte dich für demokratiefreundlich, aber du musst mehr tun. Du musst aktiv für Demokratie eintreten! Du kannst viel stärker als bisher die Vorstellung eines funktionierenden demokratischen und menschenfreundlichen Staates framen. Konkret könntest du deutlich prominenter über Dinge berichten, die eine Demokratie fördern, als über Personen, die sie abschaffen wollen.
- Zum Beispiel indem du erklärst, wie ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arm und Reich zu erzielen ist, oder wie jeder einzelne Mensch Fluchtursachen bekämpfen kann.
- Oder indem du Bücher vorstellst, die nicht die Angst vor dem Fremden schüren, sondern die zeigen, wie aus Flüchtlingen Freunde und integrierte Stützen unserer demokratischen Gesellschaft werden können.
Ich nenne dir mal ein Beispiel: Das als Book-on-demand publizierte Buch „Umweg Jakarta“ von Biggi Mestmäcker ist so eines. Hierin schildert die niederrheinische Autorin, wie sie den Behörden getrotzt und einem syrischen Koch geholfen hat, Frau und Kind nach Deutschland zu holen und hier Arbeit zu finden. Im Gegenzug hat sie, ihre Familie und ihr Netzwerk Freundschaft gefunden und köstliches Essen kennengelernt.
Ich bin sicher, du findest noch viel mehr Beispiele! Und du tust es ja schon, indem du über den Widerstand der von dir so genannten Zivilgesellschaft berichtest!
Du schaffst das, Süddeutsche Zeitung! Ich zähle auf dich!
Danke und liebe Grüße, Deine Eva